Hugo und die romantische Bewegung

Hugo und die romantische Bewegung
Hugo und die romantische Bewegung
 
Das Erscheinen von Victor Hugos Versdrama »Cromwell« 1827 markiert eine bedeutende Wende der romantischen Bewegung in Frankreich, die sich weniger aus dem Stück selbst als aus der Vorrede des Verfassers ergibt. Zum ersten Mal wurden hier die Grundzüge einer neuen Literaturauffassung formuliert, die bisher vor allem in literarischen Salons, kurzlebigen Zeitschriften sowie kleineren Zirkeln, häufig mit recht unterschiedlichen Zielen diskutiert worden waren. Wie in anderen Ländern war auch in Frankreich die literarische Entwicklung eng mit der politisch-gesellschaftlichen Situation verknüpft. Die Revolution hatte die Hoffnung auf eine Befreiung des Individuums geweckt und ein schon in der »Querelle des anciens et des modernes« begründetes historisches Bewusstsein entstehen lassen, das aus der Kenntnis der Vergangenheit die Vision einer befreiten und vollendeten Menschheit entwickelte. Aus ihr leitete Hugo den sozialen Auftrag des Dichters ab, der das Volk in eine glückliche Zukunft führen sollte.
 
1820 hatte Alphonse de Lamartine mit seinen »Poetischen Betrachtungen«, einer Sammlung von Gedichten, dem erwachenden romantischen Lebensgefühl intensiv Ausdruck verliehen. Seine Verse sind noch ganz der klassischen Rhetorik verpflichtet, aber sie schlagen einen neuen Ton an, durch den Einsamkeit, Vergänglichkeit und eine mystische Religiosität evoziert werden, die Sinnsuche und ihre Vergeblichkeit zugleich dokumentieren. In den folgenden Jahren entstanden Gedichtsammlungen von Hugo und Alfred de Vigny, die zu den Meisterwerken der romantischen Lyrik zählen und den Aufbruch einer Gattung signalisieren, die im Zeitalter der Vernunft eine untergeordnete Rolle gespielt hatte. Gemeinsam ist ihnen bei aller Unterschiedlichkeit, dass sie das Ich als Quelle der Inspiration entdecken und ihre Welterfahrung auf ihr subjektives Empfinden zurückführen.
 
Die politische Haltung der jungen Literaten und Künstler aber war gespalten. Abkömmlinge des Adels sahen im Rationalismus der Aufklärung die Ursache der Revolution und wollten zur alten Ordnung zurückfinden. Sie plädierten für eine Literatur, die die klassischen Modelle überwindet. Die Anhänger der Republik waren politisch fortschrittlich, literarisch jedoch konservativ, da sie die Macht durch die Besinnung auf traditionelle ästhetische Vorstellungen konsolidieren wollten. Schlagwortartig deuten die Epochenzuweisungen »klassisch« und »romantisch« diese Auseinandersetzung an, die den Gegensatz zwischen einem absolut gültigen und immer wieder nachzuahmenden Ideal und einer spontan aus dem Empfinden heraus schöpfenden Kunst meint. »Romantik« wurde so zum diffusen Etikett einer Bewegung, die höchst unterschiedliche Ansätze zur Erneuerung der Literatur umfasste.
 
Einen ersten Vermittlungsversuch, zwischen den vor allem in den Zeitschriften »Le Conservateur Littéraire« und »La Muse Française« diskutierten Positionen hatte Charles Nodier unternommen, dessen Salon ab 1824 zu einem Sammelpunkt von königstreuen Dichtern wie Lamartine, Hugo und Vigny, liberalen Skeptikern wie Prosper Mérimée und Honoré de Balzac oder radikalen jungen Schriftstellern wie Gérard de Nerval und Théophile Gautier wurde.
 
Doch erst Hugo gelang es, die Bewegung in seinem »Cénacle Romantique« zu organisieren und mit den Thesen der »Préface de Cromwell« (»Vorrede zu Cromwell«) ihr literarisches Ziel zu formulieren. Ihre dezidiert antiklassische Ausrichtung machte sie zu einem Manifest der Romantik: weniger wegen ihrer Originalität als wegen ihrer Fähigkeit, das Bedürfnis nach einer Erneuerung der Literatur pointiert und polemisch zum Ausdruck zu bringen. Schon Stendhal hatte in den Essays »Racine und Shakespeare« (1823/25) das klassische Ideal der drei Einheiten und die Vorstellung eines unveränderlichen Kunstideals infrage gestellt und die Romantik als moderne, zeitgenössische Kunst definiert. Auf diese Überlegungen griff Hugo zurück und teilte die Geschichte ein in eine primitive, eine antike und eine moderne Ära, denen er die Dichtungsarten Ode, Epos und Drama zugeordnete. Das dritte Zeitalter beginne der zeitgenössischen Mittelaltermode entsprechend mit dem Christentum, das mit der Einführung des Dualismus von Leib und Seele die Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit des Menschen bewusst gemacht habe. Dieses moderne Lebensgefühl könne das klassische Theater mit seinen Regeln, technischen Zwängen und moralischen Vorgaben nicht vermitteln. Hugo forderte daher neben dem Verzicht auf die Einheit von Ort und Zeit und auf die Trennung der Gattungen eine Literatur, die sich nicht auf die Darstellung des Schönen und Guten beschränke, sondern anerkenne, dass »das Hässliche neben dem Schönen existiert, das Ungeregelte neben dem Anmutigen, das Groteske als Kehrseite des Erhabenen, das Schlechte mit dem Guten, der Schatten mit dem Licht«. Im Drama, das Konflikte der eigenen Epoche im Spiegel historischer Ereignisse verdeutlicht, sah er die Gattung, die diesen Forderungen am ehesten gerecht wird. Das Stück »Cromwell« löste sie allerdings nur unzureichend ein.
 
Erst mit dem Versdrama »Hernani« ließ Hugo der theoretischen Kampfansage ein praktisches Beispiel folgen, das bei der Aufführung Gegner und Befürworter des romantischen Theaters auf den Plan rief und Tumulte im Zuschauerraum verursachte. In dieser »Hernani-Schlacht« trugen die Anhänger Hugos zwar den Sieg davon, aber dieser Erfolg konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Romantik keineswegs zu einer einheitlichen Bewegung geworden war, wie es Hugo mit seiner »Préface de Cromwell« erreichen wollte. Schon bald zeigte sich, dass es unmöglich war, die individuellen Begabungen und Lebenserfahrungen zu vereinigen. Hugo sah in dem am Vorabend der Julirevolution errungenen Triumph den Durchbruch zu einem auch politisch begründbaren Liberalismus in Literatur und Gesellschaft. Dass es ihm nicht gelang, seine Konzeption des »totalen Dramas« bühnenwirksam zu realisieren, machte spätestens der Misserfolg seines Dramas »Die Burggrafen« 1843 deutlich. Überzeugender gestaltete er jedoch seine dichtungstheoretischen Vorstellungen in dem Roman »Notre-Dame von Paris«, der als »Der Glöckner von Notre-Dame« populär wurde.
 
Geistige Unabhängigkeit und die Suche nach einem eigenen Weg innerhalb der Romantik prägen das Werk Alfred de Mussets, der die literarischen Moden seiner Zeit in den satirischen »Briefen von Dupuis und Cotonet« verspottete und sein Misstrauen gegen Klischees und dogmatisches Denken zum Ausdruck brachte. Wie kein anderer verkörpert er den Typus des romantischen Dichters, der der unwiederbringlichen Vergangenheit nachtrauerte und in der Gegenwart keine Möglichkeit sah, die dadurch hervorgerufenen Leere auszufüllen: »Alles, was war, ist nicht mehr; alles was sein wird, ist noch nicht. Suchet nicht woanders den Grund unserer Leiden«, schreibt er in den »Bekenntnissen eines Kindes seiner Zeit«, in denen er den »Mal du siècle«, den allgemeinen Weltschmerz, klarsichtig und einfühlsam analysiert, ohne sich von ihm befreien zu können. Mit seinen zwischen Sarkasmus und Verletzlichkeit schwankenden Werken machte er sich zum Wortführer einer jungen Bohème, die durch ihren extravaganten und ausschweifenden Lebensstil gegen die Gesellschaft opponierte. Ihr gehörten zeitweilig auch Théophile Gautier und Gérard de Nerval an, die in ganz anderer Weise zur Erneuerung der Literatur beitrugen.
 
Gautier wandte sich mit seiner ästhetischen Doktrin des »L'art pour l'art«, die in der perfekten Form das alleinige Ziel des Kunstwerks sieht, gegen den Gefühlsüberschwang der romantischen Lyrik. Nerval hingegen führte die Suche nach den imaginativen Kräfte des Ich in die Grenzbereiche zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Wahnsinn und Vernunft. Mit seinen fantastischen Erzählungen steht er in der Tradition der schwarzen Romantik, die von Charles Nodier begründet worden war. Doch mit seinen Traumvisionen und seiner dunklen, geheimnisvollen Sprache erwies er sich als Überwinder der Romantik und als Wegbereiter der modernen Literatur.
 
Dr. Elisabeth Lange
 
 
Französische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a. 31994.
 Köhler, Erich: Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur, herausgegeben von Henning Krauss. Band 6: Das 19. Jahrhundert. Stuttgart 1984—87.
 
Romantik-Handbuch, herausgegeben von Helmut Schanze. Stuttgart 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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